Velimir Chlebnikov
aus der STERNENSPRACHE
An den Erdball
WE der Wolken, WA der Sterne der Nachtwelle,
WE der Menschen rund um eine Achse,
WE der Zweige um den Baum, WE des Windes
und der Welle, WE der Haare eines Mädchens,
und LA der Erde an die Wiese des Himmels.
Mit dem Blütenblatt der Erdensonnenblume, und des ganzen Erdballs LA,
und du Boot der Erde, wo des Himmel Strahl – ein Matrose ist,
wo MI, das Himmelsmeer atmet!
Im SCHA des Meers von schwarzen Blicken;
PO des Himmelsgewölbes, RI & RO!
Der Gestirne GO sei über dir
wo der Streif der Wolken über der Wolkenstreife ist!
PI weiter und weiter ins nächtliche Dunkel!
Ins nächtliche TU, ins nächtliche Finstre, wo TA ist,
der Himmel MO und das SASA blauen Feuers.
O SEA des Grüns, o MEA der Wasser!
Wenn der Tageswelt NI
ins SCHA des städtischen Denkens,
fern dem hellen Solon,
das schon glänzende DA, das LA des Feuers aufgeht,
wo das SASA des Grün,
wo das SASA der weissen Wolken,
wo das feurige SASA;
in der Stunde des Lichtens NO und TU,
wo das göttliche NI, NI-NI der Götter,
wo das PE der Götter mit Flügeln des Dunkels
ins SCHA des menschlichen Denkens.
Weben der Weide wehe,
sei WE der wilden Wiederkunft,
sei WE der heiligen Wiederkunft,
Wie die Haare am Schädels des Schriftstellers der Welten,
wehe mit dem Wedel der Fichte der Gottheiten,
wo das Nichts des Netze-Nestes weht.
Und das Wabern der Welten der Nacht.
Stürze ins SA der Menschenwelt,
HA des Denkens, – NI der Sprachen,
SCHA des Denkens, – DO der Sprachen,
GO der Menschen, schaut in den Himmel:
SCHA der Morgenröten befehlen es!
Mir hat der GOUM befohlen
die GO-Sitten einzuführen
der fliegenden Regierung
des Erdballs,
die, ein Schmetterling, flatternd
über der Wiese der Namen taumelt.
(Übersetzung Rosemarie Ziegler)
aus: Velimir Chlebnikov, Werke 1, S. 338, hrsg. von Peter Urban, rowohlt das neue buch, reinbek 1972
Velimir Chlebnikov wurde 1885 in Chanskaja Stavka (Gouvernement Astrachan) geboren. Er war Zeit seines Lebens ohne festen Wohnsitz. Gestorben 1922 in Santalovo.
Liesl Ujvary, Kommentar zu Velimir Chlebnikov
Einerseits ist Velimir Chlebnikov wegen seines ungewöhnlich breitgefächerten Sprachgefühls ein praktisch unübersetzbarer Autor, andererseits scheint gerade dieses ungewöhnliche Sprachgefühl ihn zu befähigen, in tiefere Sprachschichten als die des Russischen, seiner Muttersprache, vorzudringen und auf „Muster“ zu verweisen, die der menschlichen Sprachfähigkeit möglicherweise zu Grunde liegen. Sprache beruht auf einem klanglichen Substrat, das gemeinsame Wurzeln mit Musik besitzt, solche Zusammenhänge sollten wir bedenken, wenn wir Chlebnikov lesen, in einer unzureichenden Übersetzung und jeder still für sich. Chlebnikov wäre als Sprechgesang zu hören. Sprache und Musik als Felder menschlicher Existenz spielen nämlich ganz unterschiedliche Rollen in unserer Psyche und Physis. Sprache ist eher in der Grosshirnrinde lokalisiert, während Musik viel ungenauer definierte Bereiche belegt, die aber umso stärker wirken – möglicherweise im limbischen System. Dort herrschen Gefühle, Angst – Lust – Aggression – Furcht – Abwehr. Chlebnikovs STERNENSPRACHE verweist auf diese Bereiche eher denn auf konkrete sprachliche Phonemarchitekturen. „Das Wort als solches“ lautet ein Manifest von Chlebnikov und Aleksandr Krutschonych. Zusammen mit Krutschonych, David Burljuk und Vladimir Majakovskij verfasste Chlebnikov 1912 in Moskau das futuristische Manifest „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“. Viele Gemeinschaftsarbeiten und Auftritte mit futuristischen Künstlern folgten. Wäre diese Poesie ohne die Aufbruchstimmung der russischen Revolution denkbar? Chlebnikov reiste viel, pflegte einen sehr grosszügigen Umgang mit seinen Dichtungen und Manuskripten, von denen ein Grossteil verloren ging, und starb schliesslich im Alter von 37 Jahren 1922 irgendwo in einem von Bürgerkrieg und Hungersnot zerrütteten Russland.
(erschienen als „gedicht des monats 9“ Kunstverein Alte Schmiede Wien)